I. Einleitung
Das Recht, sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zu verteidigen, ist in Gestalt des Instituts der Notwehr universell anerkannt. Es muss jedoch zugleich darauf hingewiesen werden, dass der Umfang des Instituts, nämlich der Kreis der notwehrfähigen Rechte, die Grenzen der zugelassenen Intensität der Abwehrhandlung und auch die zeitliche Grenze einer legitimen Verteidigungshandlung –zumindest auf der Ebene der positiv verankerten Notwehrdefinitionen– sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Auch lässt sich das Ausmaß des Notwehrrechts regelmäßig erst unter Berücksichtigung der Rechtsanwendungspraxis der Gerichte vollständig erfassen. Dies gilt insbesondere für solche auf der Ebene des Gesetzestextes zunächst sehr weitgefassten Notwehrdefinitionen – wie nicht zuletzt jener des deutschen StGB. Doch bleibt die normative Bestimmung der Einzelmerkmale einer Notwehrdefinition von elementarer Bedeutung für den Umfang und die Grenzen dieses Instituts.
In der neuen Notwehrkodifikation des türkischen Strafgesetzbuchs z. B. setzte der Gesetzgeber die Idee eines deutlich großzügigeren Notwehrrechts als unter dem vorherigen Gesetz durch. Dieser Befund betrifft nicht nur die Notwehrvorschrift, sondern auch diejenigen Normen, die die Notwehrüberschreitung regulieren. Im Gegensatz zum alten Strafgesetzbuch sind nun alle Rechte notwehrfähig und die Notwehrüberschreitungsregelungen bieten den Notwehrtäter großzügige Exkulpationsmöglichkeiten. Rechtsvergleichend betrachtet, stellen die Notwehrvorschiften des t. StGB eine Mischung der italienischen und deutschen, m. a. W. romanischen und germanischen Ansätze zur Notwehr dar. Die Notwehrvorschrift
Art. 25 (1) t. StGB, die im Grundsatz Ähnlichkeiten zur Art. 52 (1) codice Rocco aufweist, hat folgenden Wortlaut:
„Straflos ist, wer die Tat begangen hat, weil er dazu durch die Notwendigkeit gezwungen war, ein eigenes Recht oder das eines anderen gegen einen gegenwärtigen, noch bevorstehenden oder dessen Wiederholung sicher zu erwartenden rechtswidrigen Angriff zu verteidigen, sofern die Verteidigung in einer den Umständen angemessenen Weise nach der Situation und den Bedingungen dieses Zeitpunkts im Verhältnis zu dem Angriff steht.“
Demgegenüber entspricht die zentrale Norm über die Notwehrüberschreitung – Art. 27 (2) t. StGB – in großen Umfang dem § 33 d. StGB; darüber hinaus sieht das Gesetz in Art. 27(1) t. StGB für die nicht vorsätzliche Überschreitung der Grenzen von Rechtsfertigungsgründen, auch der Notwehr, eine Sonderregelung vor. Gegenstand dieser Untersuchung ist es, die Grundmerkmale dieser Normenstruktur,
daraus entstandene neue Diskussionsfelder und ggf. den Erkenntnisstand anderer Rechtsordnungen zur Diskussion heranzuziehen. Die Arbeit gibt zunächst einen kurzen Überblick über die historischen Hintergründe des türkischen Notwehrrechts (II). Anschließend werden Rechtsnatur, Grundgedanke und Grenzen der Notwehr im türkischen Strafrecht untersucht (III). In diesem Zusammenhang behandelt die Arbeit u. a. mit der Erweiterung der Notwehr zur Verteidigung von Sachwerten ein früher kaum relevantes, aber heute aktuelles Thema: den Einfluss von Art. 2 Abs. 2 (a) EMRK auf das türkische Notwehrrecht (IV). Danach wird die unter Einfluss der deutschen personalen Unrechtslehre in der türkischen Lehre entstandene Diskussion über die Existenz und Rechtsfolgen eines subjektiven Rechtfertigungselements am Beispiel der Notwehr erörtert (V). Im Anschluss daran wird die Notwehrüberschreitung, insbesondere das Novum Notwehrexzess, näher behandelt (VI).
(…)
VII. Abschließende Bemerkungen
Das t. StGB von 2004 sieht ein allgemeines Notwehrrecht vor. In der Tat forderte die Lehre mindestens seit Erlass des t. StGB von 1926 immer stärker, ein Notwehrrecht auch zur Verteidigung von Sachwerten zuzulassen, da außer Besitzschutzvorschriften des türkischen Zivilgesetzbuchs eine Verteidigung gegenüber bloßen Sachangriffen nicht möglich war. Die neue Notwehrregelung stellt allerdings eine Herausforderung für die Rechtsanwendung dar. Zwar erlaubt die neue Regelung, da sie sehr allgemein formuliert ist, eine Anwendung auf zahlreiche Lebenssachverhalte, sie macht aber eine Konkretisierung erforderlich, um angesichts der abstrakten Merkmale eine maßvolle Einschränkung des Notwehrrechts zu gewährleisten. Es ist deshalb kein Zufall, dass im Schrifttum die Einführung einer kasuistischen Kodifizierung der Notwehr vorgeschlagen wurde, um den Unterschied zwischen Sachwertenotwehr und Personennotwehr ausdrücklich festzuschreiben. Die gegenwärtige türkische Regelung bewirkt m. E. jedoch eine sachgerechte Mäßigung, weil die Rechte und Interessen auch des Angreifers im Rahmen der Definition berücksichtigt werden. Die Merkmale der Notwendigkeit und Proportionalität ermöglichen eine Missbrauchs und Grenzüberschreitungskontrolle für den Rechtsanwender. Gleiches gilt bei dem Notwehrexzess für das Merkmal der Entschuldbarkeit. Auf der anderen Seite werden die Rechte und Interessen so weit wie möglich berücksichtigt. Der Notwehrtäter kann nun innerhalb der relativ weit gezogenen zeitlichen Grenzen seine Rechte ohne eine punktuelle Verhältnismäßigkeitsvoraussetzung verteidigen. Wenn er die Grenzen unter Einfluss von Aufregung, Furcht und Bestürzung überschreitet, kann er auch entschuldigt werden, und beim fahrlässigen Exzess wird die Strafe gemildert. Darüber hinaus ist für die Beurteilung des Notwehrsachverhalts nicht mechanisch zu verfahren, sondern es sind die konkreten Umstände des Einzelfalls maßgebend. Diese für die sachgerechten Urteile sehr brauchbaren, aber zugleich abstrakten Merkmale dürften Erfolg allerdings nur dann versprechen, wenn sie im Lichte der ethisch-sozialen und kulturellen Werte ausgelegt werden.
Bozbayındır, A. (2016). Grundlagen und Grenzen des Notwehrrechts im türkischen Strafrecht. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 127(4), pp. 1093-1110. Retrieved from doi: https://doi.org/10.1515/zstw-2015-0048